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Abschied von Christof

 

Abschied genommen hatte ich eigentlich schon in dem Krankenzimmer, in dem er lag nach seiner Operation, oben auf den Höhen über Tübingen. Denkwürdig, daß ihn ausgerechnet ein Hirntumor zurückgeworfen hatte in die Stadt, in der er so lange gelebt hatte, zeitweilig als König der Poeten.

So hatte ich ihn auch kennengelernt, in den frühen 70ern. Im Zimmertheater, in Jeannes „Club der 100“ und im Stern, einer französischen Gaststätte mit verlängerter Sperrstunde und legendären Muschelgerichten.

Ich hatte mich getraut, ihm meine gerade erst entstandenen Gedichte zu geben. Eine Woche später durfte ich wiederkommen in die Neckarhalde, wo er damals lebte bei seiner Schweizer Freundin Sylvia Specht. Es war kalt und es war Winter. Drei Stapel hatte er vorbereitet. Der größte waren Texte, „über die wir nicht mehr sprechen sollten“, der mittlere waren Texte, „über die wir reden können, wenn du es unbedingt willst“. Und über den kleinen Stapel „sollten wir reden“.

Das haben wir auch getan, lang und ausführlich, und es war erstaunlich, wie ernst er mich nahm, mich das „Gymnasiästle“, wie ich genannt wurde und erst jetzt posthum erfuhr. Eine Woche später stand ich im Zimmertheater auf der Bühne als Gast seiner drei Konzerte. Ich hatte 10 Minuten Zeit zu lesen. Ich bin fast gestorben in seiner Garderobe, aber er hat mein Lampenfieber bekämpft und mich rausgestoßen auf die Bühne. Ich war einer seiner ersten Schüler, lange vor „Sago“, der von ihm gegründeten Poeten-Akademie.

Zwei Jahre später hab ich ihn dann eingeladen ins Zimmertheater zu einer Veranstaltung unter dem Titel „Plädoyer für die Provinz“. Ich habe Tübingen danach bald verlassen und auch Christof aus den Augen verloren.

Einmal sind wir noch zusammen auf die Alb gefahren. Er wollte einen Workshop machen mit jungen Liedermachern. Ich glaube, das war die erste Aktivität in dieser Richtung. Mammele, die alte Studentenwirtin, hat gekocht in einem alten aufgelassenen Bahnhof. Ich war sein Assistent. Am Ende gab's ein Konzert mit allen Teilnehmern. Eine Vorahnung von Sago.

Im Juli 2014 sind wir uns noch einmal begegnet in Bebenhausen, beim 80. Geburtstag meiner Mutter. Sie hatte sich einen Auftritt von ihm gewünscht und ihn auch wirklich dazu gekriegt, und extra für sie sang er ein Lied aus den 70er Jahren des vorigen Jahrhunderts: „In unserm Raum, da alpt ein Traum, da traumt ein Alp, du schläfst schon halb...“ Er blieb dann zum Essen und wir hatten uns verabredet, daß ich ihn besuche in Hechingen im Turm.

Jetzt bin ich auf dem Weg nach Hechingen und muß in Tübingen umsteigen, meiner, seiner Stadt, die er am Ende so gar nicht mehr mochte. Die Hohenzollerische Landesbahn schleicht von Ort zu Ort. Um 23 Uhr bin ich da und mache mich auf seine Spuren. Bald finde ich den Turm, an dem nichts mehr auf ihn verweist. Die Stadt ist schnell durchschritten. Hier braucht es keine Sperrstunde. Die Stadt ist schon vorher tot. „Jetzt gibt's hier nur noch den BURGER-KING“, hatte mich der Taxifahrer gewarnt. In einer Sky-Bar hocken ein paar Gestalten, die keinen einladenden Eindruck machen. Im Ortskino läuft der schwäbische Bloggbaschter "Die Kirche bleibt im Dorf 2". Was hat er gesucht in diesem Kaff?

Am nächsten Morgen erscheint die Burg Hohenzollern hoch auf dem Berg. Zwangsausflugsziel meiner Schulzeit. In der Nähe die Bärenhöhle.

Auf dem Friedhof zunächst fast nur Fremde. Tübingen hat mich vollständig ausgespuckt. Ausgerechnet Eckart von Hirschhausen kommt auf mich zu, den ich auch kaum kenne. Eine beeindruckende Trauerfeier. Erstaunlich, wie er sich als gelernter Pfarrerssohn nochmal der Kirche zugewandt hat. „Sie sind Atheist? – Ich glaube nicht.“ Über dieses Wortspiel von Christof, kann sich der Pfarrer gar nicht mehr einkriegen. Martin Betz redet für seine Schüler: genau, empathisch, liebevoll. Die Trauerhalle ist voll. „Ausverkauft" würden wir sagen.

Und es schwingt eine unglaubliche Sympathie der Trauergemeinde dem Toten entgegen. Wenn man soviel zurückbekommt an so einem Tag, muß man viel verschenkt haben. Das ist es wohl, was ihn hat weitermachen lassen, er der so rausgefallen war aus dem Mainstream, nie sonderlich erfolgreich, aber sich selbst treu. Fast eine Parallelwelt zum heutigen Kunstbetrieb, in der er da gelebt hat. Und hier kommt einem diese Welt so reich vor. Authentisch könnte man fast sagen, wenn das Wort nicht so verbraucht wäre.

Oben auf dem Berg treffen sich später seine Freunde, eine heitere Stimmung, auch bei seinen Söhnen. Der jüngere wie ein Abbild des jungen Christof. Und auch Tübingen kommt wieder auf mich zu, mit Thommie Bayer und Bernhard Lassahn.

Auf dem Rückweg muß ich wieder über Tübingen und muß umsteigen auf dem Busbahnhof. Eine Romafamilie will einen Busfahrer lynchen und prügelt auf die Polizisten von 5 Streifenwagen ein. Das Ende des Streites erfahre ich erst am nächsten Tag in der Tübinger Chronik. Das war das Blatt, in dem er eine Kolumne hatte, als er hier noch der König der Poeten war. Ich bin froh, nochmal diese Reise gemacht zu haben zu ihm.

 

Ulrich Waller


Ein stiller Urknall

 

April 1989. Vor der Heimvolkshochschule Rendsburg warten ein paar Leute auf Christof Stählin. Einige von ihnen haben ein halbes Jahr zuvor im Wettbewerb „Schüler machen Lieder“ in Berlin einen großen Auftritt gewonnen und – es war Geld übrig – ein Seminar in Rendsburg bei diesem Wiehießernochgleich. Peter, mit dem ich zusammen nach Rendsburg gefahren war („So weit nördlich war ich noch nie!“, sagte er, der Bayer) hatte von seinen Eltern eine Platte geschenkt bekommen: „Irgendwie komisch. Schon auch irgendwie gut. Ich glaube, der könnte ein ganzes Lied nur über einen Blumenstrauß schreiben.“ Wirkungsvoller konnte man aus meiner Sicht einen Liedermacher nicht entwerten, denn wir (18-25) schrieben ja Texte über richtige, wichtige Themen und dachten gar nicht daran, über Blumensträuße zu schreiben. Ein Saab hielt, ein großer Mann mit großen Händen stieg aus, wurde vom Direktor Stephan Opitz begrüßt, und dann holte er diesen seltsamen, flachen Koffer aus dem Auto, und auch ein paar Flaschen, von der Premierenfeier seines Programms „Wer köpft die Mehrheit?“, die er mit Opitz am selben Abend leerte.

Christof als Seminarleiter – das hatte eine Geschichte, die er mir erst 1996 erzählte, als ich anlässlich einer Forschungsarbeit für einige Tage auf dem Lindich zu Gast sein durfte. Er war nach dem Erfolg der Waldeck-Zeit gern gesehener Gast auf den Treffen der „Szene“ der 70er und frühen 80er gewesen, um dort „Workshops“ zu geben. Es gab viele Liedermacher, die um wenig Publikum konkurrierten, und so bevölkerten sie die Randbereiche der großen Bewegungen (Frieden, Umwelt, Frauen, Studenten u.a.) und hielten auf großen Festivals stetige Nabelschau. Workshops wurden als Ort verstanden, sich unverkrampft zu geben, Auftritte an Land zu ziehen. Christofs Forderung, Liedermacherei nicht auf Spontaneität und korrekter politischer Gesinnung aufzubauen, sondern auf Instrumentalfertigkeit, musikalischem Grundwissen, solidem Studium geschichtlich-philosophischer Hintergründe und solider Textarbeit, wurde meist als unkreativ empfunden. „Ist hier ‚Kreativität‘?“ habe in den Siebzigern einmal ein Workshopinteressent durch den Türspalt gefragt. „Nein“, hätten seine Teilnehmer wie aus einem Mund gerufen, „Kreativität ist unten. Hier ist Stählin!“. So hatte Christof geplant, diesmal alles anders zu machen: Die Teilnehmer sollten ordentlich bezahlen, sie sollten mehrere Tage zusammen wohnen und arbeiten, sie sollten ihn als Autorität wahrnehmen. Sie sollten von vornherein akzeptieren, dass es sich nicht um einen lockeren Kreativaustausch handelt, sondern um das Lernen konkreter – seiner – Regeln. Und so hieß das Seminar auch sperrig genug: „Regeln der Kunst für Dichtermusikanten“.

Christofs Programm war kompakt: Früh aufstehen, Vorträge, (Lehr-)Spaziergänge, gemeinsames Singen, Schreiben am Kanal, abendliches Musizieren und Singen, und als zentraler Tagesinhalt „Liedkorrektur-Runden“. Da wurde ein vollständiger Auftritt gezeigt: die kleine Probebühne betreten, Platz nehmen, Instrument aufheben, Ansage ausformulieren, Lied singen, Applaus entgegennehmen, abtreten. Danach wurden alle Elemente des Auftritts einer kritischen Bewertung unterzogen.

Mein Lied: eins, wie es 18jährige so schreiben: Passt auf, ich werd ein Star. Christof wartete den Schlussapplaus ab, machte eines dieser kurzen „jaahmm“-Geräusche, stand langsam auf und ging zur Tafel. Er schrieb: „Was du schreiben wolltest: Eine Parodie über einen jungen Mann, der trotz geringer Fertigkeiten meint, ein berühmter Sänger werden zu können.“ Kunstpause. Dann, und die Kreide quietschte ein bisschen: „Was wir verstanden haben: Hier verbirgt ein junger Mann seinen Wunsch, berühmt zu werden, hinter einer Ironie, die dasselbe behauptet.“ An diesem Nachmittag habe ich alles über das gelernt, was Christof Jahre später nur noch „Selbstreferenziell“ nennen wird: Narziss, der sein Spiegelbild im Wasser so liebt, dass er schließlich ertrinkt. Erwähnung schlägt Sinn der Erwähnung. Entlarvende Parodie. Es war ein wirklich schlechtes Lied, aber Christofs heftige Watschen waren sicher auch ein notwendiges Exempel, um eine neue Rolle zu finden. Nicht der Kollege, der ein bisschen in seine Trickkiste schauen lässt, sondern ein Lehrer wollte er sein. Und das wurde er in dem Moment für mich, in dem mein Lied vernichtet und dann so gut wie nie mehr gesungen wurde. Es sollte mehr als fünf Jahre dauern, bis er mit einem meiner Lieder weitgehend zufrieden war.

Am Abend sangen wir, noch nicht mit gedrehter Flasche, noch ohne Rotwein, aber schon eng beieinander im Kreis sitzend. Christof sang vorwiegend Lieder aus seinem Revolutionsprogramm, zum Beispiel den „Biedermeiersekretär“: „Goldbraun ist des Glückes Farbe, / goldbraun wie das Sonnenlicht, / goldbraun wie die Weizengarbe / und das Käsauflaufgericht“.



Wir waren sehr jung, ein paar Jahre rund ums Abitur, und waren mit vielen Liedern inhaltlich überfordert. Aber aus der Distanz darf man sagen: der Biedermeiersekretär ist ein Musterbeispiel für ein Stählin-Lied: Es nimmt die Person völlig heraus. Nicht die individuelle Sicht eines klugen (oder sich klug findenden) Liedermachers auf die Sache, sondern die Sache selbst steht da vor uns. Es geht um Deutschland, die französische Revolution und die Unfähigkeit der Deutschen, eine eigene Revolution hinzubekommen. Aber dieses Deutschland wird als liebens- und lebenswert dargestellt, eine große Kultur leuchtet aus dem goldbraun glänzenden Lack, und der Umgang der Deutschen mit ihrer Kultur ist nicht Gegenstand der Anklage, sondern einer warmen Ironie: „Doch das Sofa treibt sein Wesen / fernab von dem Sekretär, / denn sonst ging der nicht auf Spesen, / weil’s kein Arbeitsraum mehr wär.“ – nach diesem Spott bin ich heute süchtig, nicht nur, weil ich ein steuerabzugsfähiges Arbeitszimmer habe.

Seine Stimme schnitt in den Luftraum über der oft einstimmigen, oft kanonisch geführten Begleitung, die Vihuela klapperte, weil er sich nicht richtig konzentrierte – schon dieses erste Treffen strengte ihn ungeheuer an – und mit einem linkischen Ruck schleuderte er sich nach dem letzten Akkord das Instrument vom Schoß. Das Lied hatten wir nicht alle verstanden, aber eins hatten wir sehr wohl verstanden: das hier ist etwas Anderes, etwas Wichtigeres, etwas Besseres als das, was wir bisher für gute Lieder gehalten hatten.

Christof schickte uns an den Kanal, wo wir, ausgehend von den Wörtern „vorüber“ und „hinüber“, Liedtexte schreiben sollten. Ein kleiner Junge stand breitbeinig vor mir und fragte: Was machst du da?
Ich: Ich dichte.
Er: Bist du ein Dichter?
Ich: Ja.
Er: Ist der da hinten auch ein Dichter?
Ich: Ja.
Er lief fünfzig Meter bis zur nächsten Bank und schaute Arno über die Schulter und kam mit geballter Fußballerfaust zurückgerannt: Wir haben schon fünf Zeilen mehr!! Christof liebte diese Anekdote und hat sie später oft in Ansagen eingebaut, wenn ich auf den Sagokonzerten dran war.

Am nächsten Morgen wurde Sago geboren. Wir hörten Christofs Vortrag zur Liedermacherei als Kunst, die in keine Schublade passt, weil sie eine inzwischen tradierte Arbeitsteilung wieder aufhebt. So sei der Begriff „Kleinkunst“ eben eine Schublade, in die alles passe, was in keine andere gehörte; in der elterlichen Küche sei die Sago-Schütte diese Schublade gewesen, denn Sago wurde dort nicht verarbeitet. Liedermacherei, Kleinkunst: die Reißnägel, Gummiringe, Tütenverschlüsse und Rabattmarken des deutschen Kulturbetriebs. Und ich sagte, nur so dahin: „Dann sind wir ab heute eben die Künstlergruppe Sago!“ Christof lachte. Und noch mehr hat er gelacht, als wir im darauffolgenden Juli unsere Wettbewerbsbeiträge nach Berlin schickten und auf den Anmeldebögen unter Sparte/Musikrichtung „Sago“ angaben. Die Berliner Festspiele haben im Musikwissenschaftlichen Institut der HdK angerufen, um zu erfahren, was „Sago“ sei.

Christof hat von da an „Sago“ als Bezeichnung für seinen Unterricht verwendet. So konnte sich sein Lehren abheben von dem, was er früher als so unbefriedigend empfunden hatte. Sago ist das, in das er seine Energie und seine Kunst bis an die Grenze des Machbaren gesteckt hat, ist das, was ihn zu einem Lehrmeister gemacht hat, und Sago ist das, was mich und viele andere zu anderen Menschen gemacht hat.

Danke, Christof. Danke.


Philipp S. Rhaesa


Ein Denkmal für Christof Stählin, wie müsste das aussehen?


Im Juli 1995 war Sago das erste Mal auf der Burg Waldeck; lange hatte Christof gezögert, an die „heilige Stätte“ der Liedermacherei zurückzukehren, vielleicht, weil er nicht wollte, dass die Erinnerungen übermächtig werden.
Als ich zum Bahnhof musste, fuhr er mich hinunter nach Burgen. Etwa auf halber Strecke flog ein Vogel gegen die Windschutzscheibe, prallte ab und war schon wieder verschwunden. Christof machte nur eine kurze Bemerkung und fuhr dann wie üblich weiter, indem sein Fuß auf dem Gaspedal einen seltsamen Rhythmus klopfte.

16 Jahre später, 2011, nach einem gemeinsamen Konzert auf der Waldeck, fahren wir den gleichen Weg, sind beide in Gedanken, sinnen noch dem schönen Konzertabend hinterher. Da tritt er auf halber Strecke kurz auf die Bremse und sagt: „Hier sind wir einmal einem unglücklichen Vogel begegnet.“ Und ich hatte gerade auch daran gedacht. Christof war verschwenderisch mit seinen Ideen, auch, wenn er etwas erzählte, was er schon einmal ein wenig anders erzählt hatte. Aber je kleiner der Moment, an den er sich erinnerte, desto präziser war seine Erinnerung.

Welches der vielen Tiere, die Christof in seinen Liedern besungen hat, ist der Cantus firmus, wessen Stimme begleitet als stetiger Ton seine eigene?

Es ist die Amsel. Schon auf den „Privatliedern“ singt die Amsel, in einer Zeile nur, aber sie erhebt ihre Stimme da schon genauso deutlich wie auf der letzten Platte, z.B. im “Kirschbaum”.
Als ich Christof nach seiner Operation in der Rehaklinik in Bad Urach besuchte, badete direkt vor dem Haupteingang ein fetter Amselmann im Teich. Daraus glaubte ich Hoffnung schöpfen zu dürfen.



Ein Denkmal für Christof Stählin, wie könnte das aussehen? Eine kleine Amsel, gerade noch am Dach des Unteren Turms in Hechingen zu erblicken, und unten eine schlichte Tafel:
„So, und nun fliegt euch mein Lied entgegen / durch hundert Jahre, ich verabschiede mich. / Singt eine Amsel im Sommerregen / vom Nachbardach rüber, dann bin’s vielleicht ich.“


Philipp S. Rhaesa




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