Adoptierte Weisen

Adoptierte Weisen

Der Widerhall der weiten Welt in den Liedern Christof Stählins


Einführung



Christof Stählins Stil ist oft als „sehr eigen“ beschrieben worden, nicht nur in poetischer, auch in musikalischer Hinsicht. Seine Laute, ab 1981 zunehmend ersetzt durch die Vihuela, ergänzte als virtuos gespieltes Begleitinstrument sein Profil auch optisch.


Als Pfarrerskind wuchs Christof mit Kirchenmusik, als Pfadfinder mit Volksliedern auf, zwischen Kontrapunkt in höchster Vollendung und geselliger Schrammelei am Lagerfeuer.

Später, in München, lernte er das Kabarett lieben, das – wie auch das deutsche Chanson – damals noch stark französisch geprägt war.


Wie jeder selberkomponierende Musiker mischte auch Christof gern mal einen Coversong in sein Repertoire, an dem sich erkennen lässt, wo er herkam:

Zur Zeit der Waldeck-Festivals waren das die lebensprallen Balladen Carl Michael Bellmans und François Villons, die melancholischen Lautenlieder John Dowlands und, etwas später, die Gedichte (des damals halbvergessenen) Johann Christian Günthers, deren stilecht barocke Vertonung und Aufführung ihm sein Leben lang eine Herzensangelegenheit blieb. Zwei LPs aus den 1970ern (CD-Re-Release: 2014) zeugen davon. Vereinzelt landete mal ein bekanntes deutsches Volkslied auf seinen Alben, häufiger noch in seinen Bühnenprogrammen. 


Und dann sind da noch jene Lieder, die durch Neubetextung oder Nachdichtung unbekannterer Vorlagen aus anderen Ländern entstanden. Und um diese letzteren soll es hier gehen. Wir haben uns – quasi auf dem Nebengleis zu anderen Arbeitsprojekten – systematisch auf Recherche nach Christofs Vorlagen begeben, wollten einfach mal hören, wie diese Lieder in ihren Originalsprachen klingen.


Glücklicherweise war keins dieser Lieder so unbekannt, daß man es heute nicht auf YouTube finden konnte. Nur musste man auch wissen, wonach man sucht, denn nicht immer geht das eindeutig aus den Credits der LP-/CD-Hüllen hervor. Als besonders verblüffendes Recherche-Talent und große Hilfe erwies sich mein SAGO- und Liedermacherkollege Philipp Dewald, der inzwischen 1. Vorsitzender der 2017 gegründeten Christof-Stählin-Gesellschaft ist.


Die Früchte unserer Suche präsentieren wir nun in unregelmäßigen Abständen:

In Essays wechselnder Autoren stellen wir jeweils Christofs „Nachdichtung“ dem „Original“ gegenüber. Allerdings ohne zu behaupten, daß Christof genau diese Version gekannt hat: Manches Lied mag er in einem Konzert oder einer geselligen Singerunde gehört oder einem Liederbuch entnommen haben, ohne je eine Aufnahme davon zu besitzen.


In poetischer Bescheidenheit fasste Christof Stählin seine erste Sammlung eigener Texte unter dem Buchtitel „Findelkinder“ zusammen, obgleich seine Vaterschaft zweifelsfrei feststand. Mit dieser kleinen Reihe, die eigentlich eine große ReiSe ist, legen wir – aus ganz unterschiedlichen Blickwinkeln – einige Quellen Stählinscher Inspiration frei. Die „adoptierten Weisen“ erlauben tiefe Einblicke in das Schaffen und die Weltsicht eines Künstlers, dessen Oeuvre seinerseits bis heute so viele Menschen inspiriert.
Wir wünschen viele erhellende Momente.


Holger Saarmann



Zu Teil 1: Herbstspaziergang / The Caledonian Hunt's Delight

Zu Teil 2: Mädchen auf der Schiffschaukel / Vieni sul mar

Zu Teil 3: In hundert Jahren / Marche du Royal Soissonnais

Zu Teil 4: Die Kastanien / Viens dans ce bocage


Teil 1: Herbstspaziergang / The Caledonian Hunt's Delight


von Alva Liv Heiniger


In der Turngarderobe war es, so in einer Art Garderobe wenigstens. Wir waren frisch gebackene ABC-Schütz*innen, und die Garderobe bestand aus einer Art Theke, hinter der wir uns umzogen. Unsere Lehrerin schritt gerade vorüber. Und ich pfiff. «Ich pfeife, weil ich ein Lied hab», hätte ich wohl mit Konstantin Wecker gesagt, hätte ich sie damals schon gekannt, die Liedermacher:

 

Eine Basler Fasnachtsmelodie pfiff ich. Meistens sind das mit Piccolos (Mini-Querflöten) gespielte und von Trommeln begleitete alte Französische Militärmärsche, im virtuos-poetischen Basler Fasnachtsgewand, getrommelt und gepfiffen am Cortège, dem grossen Fasnachtsumzug, und natürlich abends beim «Gässle» in Basels mittelalterlicher Innenstadt. Es fällt wie im Traum in eine andere Zeit und Welt, wer es schon erlebt hat.

(betreffende Melodie im Video von 3:26 bis 4:08)

«In welcher Fasnachts-Clique spielst du?», fragte mich meine Lehrerin unvermittelt, «und wie lange schon?» «Gar nicht», sagte ich, «ich habe die Melodien in Basels Gassen gehört!» Fräulein Jann konnte das kaum glauben. Sie runzelte die Stirn in tiefe Furchen. «Und am Radio spielen sie die Fasnachtsmärsche ja auch», versuchte ich zu beschwichtigen, «im Fasnachts-Querschnitt».

 

Zehn Jahre später begegnete er mir wieder, der Basler Fasnachts-Marsch «Whisky Soda» vom legendären Marschkomponisten und Arrangeur Cheese Burger, wieder auf Schweizer Radio DRS, im Gewand von Christof Stählins Herbstspaziergang.

Hier finden Sie den Liedtext zum Mitlesen.

Ich war bass erstaunt. Leicht verändert die Melodieführung, aber insgesamt nicht zu verwechseln.

 

Es sollte aber weitere zwanzig Jahre dauern, bis ich Christof Stählin auf diese Basler Verwandtschaft mit seinem Herbstlied ansprechen konnte. Das habe er aus einem Britischen Liederbuch, erklärte mir der Lehrer und Mentor.

 

Wundert es jemanden, dass es mir warm ums Herz wurde, als ich feststellte, dass Sebastian Krämer ausgerechnet den Herbstspaziergang auf der CD «Die Versammlung der Inseln / SAGO singt Stählin» interpretierte, die wir Christof Stählin zu dessen 70. Geburtstag schenkten?

 

«The Caledonian Hunt's Delight» (Das Kaledonische Jagdvergnügen) heisst das Stück im Original. Dies schrieb mir vor ein paar Tagen Holger Saarmann, der wieder einmal sauber recherchiert hatte.

Und im Sommer 2019 sagte es mir ein kecker Schottischer Junge, ich schrieb es mir aber nicht auf damals und konnte es mir nicht merken. Der Zehnjährige stand im Kilt in Edinburghs Innenstadt und spielte da ganz allein auf seiner Blockflöte alte Schottische Melodien, sehr musikalisch, ganz innig und völlig in sich gekehrt. Wunderbar. Und plötzlich war sie wieder da, meine Turngarderoben-Melodie, der Basler «Whisky Soda», Christofs Herbstspaziergang. Gespielt vom Jungen im Kilt.

 

Gibt es ein schöneres Bild dafür, dass gewisse Melodien zuweilen einen Hauch Unsterblichkeit verbreiten?



Zur Website der Autorin Alva Liv Heiniger: https://www.liv-markus.ch/

Weitere hörenswerte Aufnahmen von „The Caledonian Hunt's Delight“ gibt es z. B. von The Clutha und Saskia Tomkins.

Die Melodie wurde auch mit dem Text „Ye banks and braes“ von Robert Burns (1759-1796) sehr bekannt, siehe z. B. hier.

Christof Stählins Lied „Herbstspaziergang“ ist erhältlich ...

... auf der CD „Das Einhorn“ (unter Bestellung).

... als Teil des großen Christof-Stählin-Liederbuchs (Musterseite zu „Herbstspaziergang“ hier herunterladen – gesamtes Buch unter Bestellung).

... in Sebastian Krämers Version auf der CD „Die Versammlung der Inseln“ (Restexemplare bei BuschFunk).


Teil 2: Mädchen auf der Schiffschaukel / Vieni sul mar


von Christof Stählin (mit Ergänzungen von Holger Saarmann)


Christof Stählin in einer Konzertansage am 26. Juni 1983:
 
„Ich bin einmal in der Schweiz gefahren – auf der Autobahn, mutterseelenallein, Richtung Österreich im Abendrot, und hatte Sehnsucht nach Musik, um nicht zu sagen: Ich hatte ein Musikbedürfnis. Ich bin rausgefahren an eine Tankstelle – und tatsächlich: Da stand ein Eternit-Trichter, im Querschnitt etwa x-förmig, mit einem Kratersee oben drinnen, wo Tonkassetten drinnen lagen, die zum Wühlen ausgewiesen waren durch eine Filzschreiber-Inschrift auf einem mit Tesafilm extra angehefteten Zettel. Ich also habe gewühlt, aber nicht lange, denn ich bin sofort auf das gestoßen, was mir passend zu sein schien, eine Kassette mit der Aufschrift ‚Weites Rußland, deine Chöre‘. Meine vorausschauende Fantasie hat sich ausgemalt, wie ich mit schwarzen Bässen über die Autobahn donnern würde, im Abendrot (sofern mein Modell das Donnern überhaupt zugelassen hat). So ist es geschehen; ich bin aber nicht über das erste Lied hinausgekommen – vor Begeisterung, ich habe immer wieder zurückgespult und nur dieses Lied tagelang angehört, bis ich's pfeifen, trällern und singen konnte: Ein schwungvolles Dur, was sich aufschwingt zu einem kühnen Moll, auf dem höchsten Mollton verharrt – sei es aus Genuss oder aus Unentschlossenheit – sich dann wieder hinabschwingt in das Dur.“

„Ich hab zuhause eine russische Pianistin [Maika Kalamkarian] aus Tiflis gefragt: Kennen Sie diese Melodie? Und dann hat sie gestrahlt und hat gesagt: ‚Ja, selbstverständlich kenn ich diese Melodie! Die haben wir als Kinder immer im Chor gesungen! Das ist eine italienische Melodie – mit dem Originaltitel ‚Die Schwalbe‘‘ – wegen dem hin und zurück wahrscheinlich. Ich hab gesucht nach einer Möglichkeit, das zu vertexten – wie man sonst eine Melodie vertont, das Umgekehrte – und bin gestoßen auf eine Schiffsschaukel: Ein Mädchen auf einer Schiffschaukel, was sich auch aufschwingt bis zu einem Punkt, der zwischen Genuss und Unentschlossenheit changiert. Dem Zuschauer zieht es die Schuhe aus, weil er nicht weiß, ob sich nun die Schiffschaukel überschlagen wird, oder noch einmal zurückfällt.“

Hier finden Sie den Liedtext zum Mitlesen.

„Das Sich Überschlagen ist inzwischen verboten, aber damals war's noch so. Es heißt: ‚Es fallen ihr die Haare zu Tale, wenn die Schaukel zu Berge sich stellt‘, und ich weise darauf hin, daß es genau das Gegenteil ist von ‚Es stehen ihr die Haare zu Berge‘: Das macht ja nun die Schaukel für sie durch ihren Schwung. ‚Dann macht sie sich leicht, damit sie aufsteigt‘: Es handelt sich bei diesem Aufstieg in Wirklichkeit um einen Aufschwung. ‚Und sie macht sich leicht dafür‘ – worauf hinzuweisen ist, denn wir haben eine Regierung, die sich extra zu diesem Zweck besonderes Gewicht zu verleihen bestrebt zu sein scheint.“
 
Bei dem italienischen Lied, das Christof womöglich unbekannt blieb, handelt es sich um das neapolitanische Volkslied „Vieni sul mar“, das 1919 in einer Schallplattenaufnahme von Enrico Caruso um die Welt ging.

Die Christof-Stählin-Gesellschaft dankt ihrem Kassenprüfer Björn Limberg, der hier nicht zum ersten Mal mit Sachverstand brillierte.

Von „Vieni sul mar“ existieren unzählige Aufnahmen weiterer Künstler, z. B. von Andrea Bocelli, Luciano Pavarotti und José Carreras.

Christofs Bearbeitung „Mädchen auf der Schiffschaukel“ erschien auf dem aktuell leider vergriffenen Album „Wie das Leben schmeckt“.

Noten und Text von „Mädchen auf der Schiffschaukel“ (Musterseite) sind als Teil des großen Christof-Stählin-Liederbuchs hier erhältlich.


Teil 3: In hundert  Jahren / Marche du Royal Soissonnais


von Philipp Dewald


„Landsleute dort in hundert Jahren, könnt ihr mich hörn, wie geht’s denn so?“


Um Christof Stählin noch zu erleben und zu sehen, kam ich zweieinhalb Jahre zu spät, als ich im Frühling 2018 erstmals ein SAGO-Seminar besuchte. Aber zumindest hören konnte ich dort einiges von ihm – erstaunliche Anekdoten, Weisheiten und Bonmots, seine gleichnishaften Regeln der Liedkunst und nicht zuletzt seine eigenen Lieder, die dort so selbstverständlich gesungen wurden wie andernorts „Der Mond ist aufgegangen“ oder „Let it be“. Für mich war diese indirekte Begegnung eine Offenbarung, die mich meine bisherigen Vorstellungen von guten Liedern und die daraus entstandenen Versuche schnell über Bord werfen ließ, um mich stattdessen auf Christofs Spuren zu begeben.


Das erste Stählin-Album, das ich dann hörte, war zugleich das letzte von ihm veröffentlichte: „Aus freien Stücken“. Und darauf an dritter Stelle ein Lied, das mich besonders aufhorchen ließ:

Hier finden Sie den Liedtext zum Mitlesen.

Es richtet sich an die „Landsleute dort in hundert Jahren“ – dagegen sind zweieinhalb Jahre ja beinahe nichts. Es freute mich, dass ich Christof zumindest in diesem Lied nicht als zu spät Geborener begegnete, ja, dass er sogar die Generationen danach im Blick gehabt hatte. Was genau er den Nachfahren jedoch sagen wollte, lässt sich den in Frageform gehaltenen Versen nur indirekt entnehmen – aber das war ich von ihm ja bereits gewohnt.

Christof erkundigt sich nach dem Zustand des Landes – nach dem Weiterbestehen der architektonischen Wahrzeichen, der Traditionen, der Lebensverhältnisse, des Forschergeistes. Konservativ kann man das teilweise finden, gewiss. Die Frageform weist aber auch darauf hin, dass nichts davon zwingend erhalten bleiben muss, dass Deutschland in hundert Jahren ganz anders aussehen kann, nicht unbedingt schlechter. Der Fragesteller gibt nur eines über seine Haltung preis: Egal ist es ihm nicht.


Ein Leben lang beschäftigte Christof das ambivalente Verhältnis zu seinem Heimatland. Zahlreiche Lieder und Texte zeugen davon, auch ganze Bühnenprogramme wie „Mag denn keiner die Bundesrepublik?“ oder „Deutschland – Wir bitten um Ihr Verständnis“. Am bekanntesten wurde seine „Tröstung einer Melodie“, der Nationalhymne: „Deutschland ward zur Blaskapelle, gedacht wär’s gewesen als Streichquartett“. Schon hierin zeigt sich, wie verhasst ihm als im Zweiten Weltkrieg Geborenen die militaristische Seite des Patriotismus war. Und wie er dennoch – in den 70er- und 80er-Jahren nicht ohne Gegenwind – nach einem differenzierten Blick auf die Kultur suchte, nach den schönen Seiten des Landes. Sein Spätwerk „In hundert Jahren“ zeigt, was ihm wichtig erschien – etwa, ob „auf dem Neckar noch weiße Schwäne unter dem Hölderlinturm vorbei[ziehn]“. Möge darin eine verwerfliche politische Haltung erkennen, wer es nicht lassen kann. Den anderen sei gesagt: Christof wohnte jahrelang am Tübinger Neckarufer in unmittelbarer Nähe zum Hölderlinturm. Die hier besungenen Kulturgüter repräsentieren die Geschichte unseres Landes, aber für Christof waren sie auch untrennbar mit seiner eigenen Geschichte verknüpft.


Einen fehlenden Blick für das Ganze kann man ihm aber keinesfalls vorwerfen. So wirkt doch die vierte Strophe geradezu prophetisch hinsichtlich der großen Fragen unserer Gegenwart: „Habt ihr auch warmes Zeug für den Winter, oder braucht ihr das nicht mehr? Und kreisen und reisen die Tiefdruck- noch und die Hochdruckgebiete von Rußland und übern Atlantik her?“


Für mein Empfinden besitzt das Lied eine große Tiefe, ein historische Verwurzelung, die erschauern lässt – eine Wirkung, zu der wohl noch etwas entscheidend beiträgt: die Musik. Als ich die Aufnahme zum ersten Mal hörte, war ich auch von der musikalischen Umsetzung überwältigt. Während die Begleitung der ersten beiden Lieder auf dem Album ganz minimalistisch-meditativ gestaltet ist, begleiten hier mehrere barock gesetzte Stimmen Christofs Vihuelaspiel und Gesang: Edward Tarrs virtuos-fanfarenartige Trompete, Martin Bärenz‘ kraftvolles Cello und Andreas Zimmers hohe, klare Zweitstimme. Das waren für mein Ohr anfangs fremdartige Klänge; erst, als ich mich weiter in Christofs Werk ‚hineingehört‘ hatte, wurde mir allmählich bewusst, in welcher Tradition sie stehen. Für ein Stählin-Album ist die Instrumentierung nicht ungewöhnlich – diese Melodie aber durchaus.


Ein paar Jahre später berichtete mir Holger Saarmann, Archivbeauftragter (und heute auch Geschäftsführer) der Christof-Stählin-Gesellschaft, der ich inzwischen beigetreten war, von seinen Recherchen zu den musikalischen Vorlagen einiger Lieder. Unter anderem die von „In hundert Jahren“ habe er noch nicht gefunden – im Album-Booklet stehe nur, dass es sich um einen „alten französischen Marsch“ handle, Genaueres sei nicht herauszukriegen. Meine Neugier war augenblicklich geweckt und ich begann, auch zu ‚recherchieren‘, indem ich einfach mal bei YouTube nach französischen Märschen suchte. Wie viele konnte es da schon geben? Nun, zahllose. Aber ich hatte Glück und hörte nach wenigen Versuchen die inzwischen vertraute Melodie wieder – unter dem Titel „Marche du Royal Soissonnais“:

Es ist der um 1750 entstandene Marsch eines Infanterieregiments aus der nordfranzösischen Gemeinde Soissons. A cappella von einem großen Chor vorgetragen wirkt die Melodie mindestens so mysteriös-altertümlich wie in Christofs Version. Weniger schön ist der Originaltext. Angeblich von den Soldaten selbst gedichtet, erzählt er mit viel Pathos von ihrem gegenseitigen Respekt, ihrer Ehre und Pflichttreue, vom Krieg – dem Gegenteil der zivilisierten Kultur, der Ästhetik, die Christof so wichtig war. Dass er ausgerechnet diesen Marsch, mit dem auf den Lippen wohl zahllose französische Soldaten gegen Deutschland in die (Verteidigungs-)Schlacht zogen, neu bedichtete mit einem Text, der über das wenige wirklich Bewahrenswerte der deutschen Kultur nachdenken lässt, hat den Charakter eines Beitrags zur Völkerverständigung und deutsch-französischen Versöhnung. Etwas tatsächlich Ehrenhaftes.


Diese Musik bewirkt bei Christofs Lied aber auch, dass es nun einmal wie aus dem achtzehnten Jahrhundert klingt – in seinem Werk nichts Ungewöhnliches, aber doch ein Widerspruch zu dem Titel „In hundert Jahren“. Die kürzlich auf dem Stählin-Tribute-Album „Nur meine Lieder“ veröffentlichte Neuinterpretation des Liedes von Manfred Maurenbrecher setzt konsequenterweise auf futuristischer anmutende, digital erzeugte Klänge und Sprechgesang. Das wird den Hörgewohnheiten unserer Nachfahren vielleicht angemessener sein – oder in hundert Jahren auch schon wieder Schnee von gestern.


Zu Manfred Maurenbrechers Version bei Spotify



Mich ließ jedoch der Gedanke nicht los, dass Christof für die Wahl des altertümlichen Klangs auch wohlüberlegte Gründe gehabt haben werde. Und so stieß ich einmal beim Blättern im CD-Booklet von „Aus freien Stücken“ auf eine zuvor übersehene Information, die ich als klaren Hinweis deutete. Nach dem Text von „In hundert Jahren“ folgt dort eine ganzseitige Abbildung mit der Bildunterschrift: „Postkarte mit Rhein und Loreley-Felsen, ca. 1910“ – also ziemlich genau hundert Jahre vor der Produktion des 2011 erschienenen Albums! Wie schon die Musik lässt das vermuten, Christof, der oft als ‚aus der Zeit gefallen‘ bezeichnet wurde und daraus eine Tugend machte, wende sich aus der Vergangenheit an das Publikum – uns Landsleute der Gegenwart. Haben nicht auch wir den größten Einfluss darauf, wie es hier in noch einmal hundert Jahren aussehen wird?


In einem 2012 vom SWR aufgezeichneten Interview spricht Christof darüber, was ihn auf die Idee zum Lied brachte: „Die Anregung ist gekommen von der Stadt Rottweil. Die haben eine Aktion gemacht – ‚Mailbox‘ – und zwar einen Briefkasten, in den man Botschaften an die Leute in hundert Jahren reingeben konnte. Der ruht jetzt im Boden von Rottweil und wartet darauf, dass er in den inzwischen, ich glaube, noch fünfundneunzig Jahren dann von den Nachfahren ausgegraben wird. Die dann hoffentlich gespannt sind, was wir ihnen zu sagen und was wir sie zu fragen haben.“


In der letzten Strophe von „In hundert Jahren“ hat Christof mehrere Motive aus seinem eigenen Werk zusammengetragen, den „wunderbaren“ Sommerregen (aus „Der Kirschbaum“), das übers Kinderohr hängende Kirschenpaar (aus „Der Sommer“) und natürlich sein Leitmotiv, auch das Wappentier unseres Vereins: Die Amsel. Wobei er hier zum ersten Mal andeutet, möglicherweise selbst als eine Amsel wiedergeboren zu werden. Ich hoffe ja, dass die Amseln in hundert Jahren von allen Dächern singen und diese Zeitkapsel von einem Lied immer wieder geöffnet wird. Aber „es bringen die Zeiten für euch, die noch lang nicht geboren, und uns, was noch kein Mensch weiß, ade.“



Zur Facebook-Seite des Autors Philipp Dewald: https://www.facebook.com/Philipp.Dewald.Lieder

Christof Stählins Lied „In hundert Jahren“ ist erhältlich ...

... auf der CD „Aus freien Stücken“ (unter Bestellung).

... als Teil des großen Christof-Stählin-Liederbuchs (Musterseite zu „In hundert Jahren“ hier herunterladen – gesamtes Buch unter Bestellung).

... in Annett Kuhrs Version auf der CD „Nochmal von vorne“ (in einer Live-Version auch auf YouTube).

... in Manfred Maurenbrechers Version auf der CD „Nur meine Lieder“ (bei BuschFunk).


Teil 4: Die Kastanien / Viens dans ce bocage


von Martin Betz

Hier finden Sie den Liedtext zum Mitlesen.

Christof verwendet hier die Melodie eines populären französischen Liedes. Und fast ganz getreu auch das Reimschema, das auffällig ist in ungewöhnlicher Weise. Die Position des Reimes innerhalb der Zeile erstaunt, sie liegt nämlich erst hinter der Hauptbetonung. Beim Singen merkt man das sofort: „Unter diesem grünen Zelt sind ringsum aufgestellte Tisch und Bänke“, da liegt die, von der Musik stark akzentuierte, Betonung; bei „Zelt“ und „gestellt“ erst erscheint der Reim - man überhört ihn allzu leicht! Und das findet sich tatsächlich im französischen Lied ebenso gestaltet. 

 

Auf Youtube können wir's von Richard Dyer-Bennett vorgetragen finden, einem Engländer, der im Nachkriegs-Amerika als selbsternannter „letzter Minnesänger“ Karriere machte:

Er verortet den Ursprung dieses Lieds am Hof Marie Antoinettes, der Gemahlin Ludwigs XVI. Ich würde diesen eher in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts vermuten. Hier nämlich blüht die Schäfermode der Hochbarockzeit, die durch dieses Lied mustergültig repräsentiert wird - durch Text wie Musik. Im Text wird eine Frau aufgefordert zu, schlicht gesagt, einem Schäferstündchen. Freilich wird diese Aufforderung in höfischer Verblümtheit ausgesprochen: „Laß uns den Hain und seine Schönheiten aufsuchen, um der Liebe eine zärtliche Würdigung zu bieten (pour offrir à l'amour un tendre hommage). Laß uns im Schatten der Wälder die guten Geheimnisse liebreicher Tändelei genießen. Wir sind beide im schönen Alter“ (À I'ombre de ses forêts, goûtons les bons secrets d'un aimable badinage; Nous sommes tous deux dans le bel âge). Wer sich den Sänger dieser Verse mit Bocksfüßen und Ziegenbart ausgestattet vorstellt, geht nicht fehl. Freilich, beim sanften Christof erscheint das Freiluft-Liebespaar wiedergeboren in Gestalt friedlicher Weizenbier-Konsumenten.

 

Die Musik betreffend ist der Titel des Liedes von Bedeutung, der „Tambourin“ lautet. So werden im französischen Barock Tanzstücke überschrieben, deren Stil sich von einem Musikinstrument herleitet - nein: von einem Duo von Musikinstrumenten. Einerseits dem namensgebenden Tambourin, bei dem sich's in diesem Fall nicht um das bekannte Trommelfell-Instrument handelt, sondern um eine heute weniger bekannte Saitentrommel. Saitentrommeln spielen im Mittelalter ein bedeutende Rolle, sie gehören zum großen Stammbaum der Hackbretter, aus dem letztlich alle Cembalo- und Hammerklavierinstrumente hervorgehen. Jenes große Hackbrett, das heute noch in der ungarischen Kaffeehaus- und Straßenmusik populär ist, das Zymbal, wird, ähnlich einem Vibraphon, chromatisch-akkordisch gespielt. Das Saiten-Tambourin dagegen ist Borduninstrument, seine drei Chöre werden meist Grundton-Quint-Oktave gestimmt - so ist es an eine bestimmte Tonleiter gebunden. Weshalb dieses Tambourin auch zur Pauken-Familie gezählt wird, als Percussionsinstrument, das zugleich eine - aber eben eine einzige - Tonhöhe repräsentiert.


Weil das Saitentambourin mit einem einzelnen Klöppel angeschlagen wird, bleibt die zweite Hand frei. Und mit dieser wird traditionell ein Melodieinstrument gesteuert, nämlich eine Einhandflöte. Diese Instrumenten-Kombination trägt eine Melodie über begleitendem Bordun vor, nicht anders als Dudelsack und Drehleier das tun. Und wie jene Kombination läßt auch die barocke Drehleier sowohl Melodie als auch Beat erklingen: „Le chien“ (Hund), deutsch „Schnarrsteg“, heißt ein Holzhämmerchen, das von der sog. Schnarrsaite in rhythmische Bewegung versetzt wird und vernehmlich auf die Korpusdecke trommelt. Der versierte Leierspieler kann damit tatsächlich komplexe Rhythmen gestalten. Interessanterweise trägt das Folklore-Saitentambourin eine ähnliche, allerdings nicht steuerbare Einrichtung: kleine Metallrahmen am Steg, gegen die die Saiten schlagen, um ein bezeichnendes Glitzergeräusch zu erzeugen.


Musette, Vieille und jenes „Tambourin“ genannte Instrumenten-Duo also halten als Schäfermode Einzug am barocken Hof. Als „Musette“ und „Tambourin“ finden sich Tanzsätze in Instrumentalstücken höfischer Hochkultur betitelt. Eins der bekanntesten Cembalostücke Jean-Philippe Rameaus etwa heißt „Tambourin“ (hier anhörbar) - womit ich endlich wieder bei Christof Stählin anlange. Für ein Lied seiner ersten Johann-Christian-Günther-Platte (Leonore, laß dich finden! / Irr ich, oder rufst du nach?) benutzt Christof just die Melodie dieses Rameauschen „Tambourin“ - sodaß in sein Werk zweimal Melodien Einzug halten, bei denen ursprünglich „Tambourin“ drübersteht.


Nehmen wir die Melodien von „Herbstspaziergang“, „Das Land“ und „An die Deutschen in hundert Jahren“ hinzu, läßt sich festhalten, daß Christof beim Adoptieren eine Vorliebe für Musik zeigt, die von Bordun und schlichtem Auf-Eins-Wummer-Beat geprägt sind. Weil der feinsinnig-vielschichtige Christof bekanntlich gern den Kontrapunkt zu sich selbst gesucht hat. Und weil diese Vorliebe so gravierend erscheint, will ich noch kurz über den Charakter von Bordun-Melodien sprechen.


Musikerin mit Saitentambourin und Einhandflöte (Bildquelle)

Gemäldedetail (Bildquelle)

Schnarrsteg (Bildquelle)

Die genannten Borduninstrumente der westeuropäischen Tradition (Dudelsack, Drehleier, Saitentrommel) liefern gewöhnlich einen Baß, der sowohl aus Grundton als auch Quinte besteht. Kein Wunder, wenn die zugehörigen Melodien meist Grundton und Quinte als tragende Eckpunkte zeigen. Nun zeigt sich, daß der Melodien-Architekt gewissermaßen auch die Quinte als Grundton anzusehen pflegt und folgerichtig auch die Quinte der Quinte, die None oder Sekunde also, als bedeutenden Melodieton einfügt. Diese None / Sekunde überm Baß-Grundton erzeugt naturgemäß besonders starke Reibung; und regelmäßig wird die Abwechslung von giftigem Halbschluß (auf 9 oder 2) und erlösend harmonischem Ganzschluß auf 1 ausgenutzt. Nehmen wir Rameau (im betreffenden YouTube-Clip lassen sich die Noten verfolgen): Der e-Moll-Beginn mündet in einen Halbschluß auf dem hohen Fis (9), die folgende Sequenz, eine variierte Wiederholung, schließt im hohen e (1). Nehmen wir das „Kastanien“-Tambourin, und legen hier E-Dur als Tonart zugrunde: Auch hier findet sich der Halbschluß („dunkelgrün“) auf Fis (2), und nach quasi-wiederholender Sequenz der Ganzschluß auf E. Nehmen wir den Anfang vom „Herbstspaziergang“: Halbschluß („entlang“) auf 2, Ganzschluß („ein Lied“) auf 1. Nehmen wir „Das Land“: Halbschluß („aufs Land“) auf 2, Ganzschluß („bloßen Hand“) auf 1. Nur bei „An die Deutschen“ gibt's in der ersten Strophenhälfte zweimal den Ganzschluß auf 1. Aber was bringt die zweite Strophenhälfte? Den Halbschluß („Zeit hinein“) auf 2, den Ganzschluß („sein“) auf 1. 

 

Nun zeigen unsere „Tambourins“, Rameaus wie das der „Kastanien“, auch Passagen, die beweisen, daß es sich nicht mehr um reinrassige Bordunmusik handle, sondern um ihre Herbeizitierung durch akademische Musiker. Bei Rameau ist das ein chromatischer Gang (0:35-0:38), bei den Kastanien ein diatonischer am Schluß der zweiten Strophe (in Christofs Lied beginnt sie bei den „verzagten Nachbarn“). Rameau behält bei seiner Passage kühn den Bordun bei, indem er einfach überm Bass-E die zur Oberstimme passenden chromatischen Akkorde setzt, auf dem Tasteninstrument geht das ja. Dyer-Benett und Christof greifen da virtuos und säuberlich um, um die Reibung zu vermeiden, wie das ihrem jeweiligen Stil entspricht. Ich aber möchte schließen mit einem Appell an die Experimentierlust: Machen wir es nicht wie die verzagten feinen Herren der Nylonsaitengitarre! Probieren wir so ein Lied doch mal wirklich überm Bordun gesungen! Natürlich nicht an Klavier, Gitarre oder Cello - dann verlangt das Publikum zu Recht den Akkordwechsel. Sondern mit einem Begleitinstrument, das nicht anders kann als Bordun. Ich durfte mich bei meinem Lied „Damenrad“ bisweilen von Otto Kuhnle auf dem Alphorn begleiten lassen. Vielleicht versuch ich demnächst mit ihm zusammen mal die „Kastanien“; er darf dann nur die unterhalb der Baumgrenze gelegenen Töne verwenden.



Zur Website des Autors Martin Betz: https://martinbetz.de

Noten und Text von „Viens dans ce bocage (Tambourin)“, im französischen Original und in wörtlicher deutscher Übersetzung, gibt es hier.

Zudem ist das Original vielfach in einem Arrangement von Jean-Baptiste Weckerlin unter dem Titel „Aminte (Bergerette Nr. 8)“ zu finden, in verschiedenen Live-Versionen wie dieser und in einer besonders hörenswerten Instrumentalversion mit Klavier und Querflöte.

Christof Stählins Lied „Die Kastanien“ ist erhältlich ...

... auf der CD „Stiller Mann“ (unter Bestellung).

... als Teil des großen Christof-Stählin-Liederbuchs (Musterseite zu „Die Kastanien“ hier herunterladen - gesamtes Buch unter Bestellung).

... in der Version von Joana und Barbara Thalheim auf der CD „Nur meine Lieder“ (bei BuschFunk).

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