Als Teil der legendären Waldeck-Festivals war Christof Stählin (1942-2015) ein Liedermacher der ersten Stunde. Die politische Verbissenheit vieler Kollegen blieb ihm aber fremd. Stählins frühe Lieder und Texte zeichnen mit scharfem Blick, reichlich Humor, Poesie und Experimentierfreude ein facettenreiches Bild – von einer Zeit, die unserer Gegenwart erstaunlich ähnlich sieht.
Die 2017 gegründete Christof-Stählin-Gesellschaft (e.V.) hat den Nachlass des Dichters jahrelang durchforstet und Tonbänder, Fotos und Erinnerungen aus den abgelegensten Quellen zusammengetragen. Herausgekommen ist ein 200-seitiges Buch mit früher Prosa und Lyrik, einordnenden Essays von Stählin-Experten und den Texten zu über vierzig Liedern, die auf den beiliegenden CDs versammelt sind: „Christof Stählin: Privatlieder und ihre Verwandten – Das Frühwerk 1960-1974“
„Privatlieder“ nannte Christof Stählin sein LP-Debüt, das 1973 bei Intercord erschien. In durchaus provozierender Absicht spiegelte der Titel den anhaltenden gesellschaftlichen, insbesondere akademischen Diskurs wider, inwieweit die Kunst zu politischer Relevanz verpflichtet sei. In hochwertiger Aufmachung präsentiert die vorliegende Edition nicht nur das vollständige, frisch vom Masterband überspielte „Privatlieder“-Album mit seinen zwölf Liedern (darunter Klassiker wie „Der Müßiggänger“, „Fliegenpilz“, „Der Busen“, „Sauregurkenzeit“ und „Ein Skelett“), sondern auch über dreißig weitere Lieder und Sprechtexte, die größtenteils nie auf Tonträger erschienen und seit Jahrzehnten auf keiner Bühne mehr erklangen: der „Vampir“, die „vielen kleinen Rezepte“, die „Sinecure“ (quasi die Erfindung der Patronförderung), zahlreiche Momentaufnahmen aus dem Leben der Tübinger Bohème, dadaistische und surreale Gedankenspiele und jede Menge satirische Sticheleien, die keineswegs – auch daraus ergab sich Stählins Sonderstellung – die eigene gesellschaftliche Blase aussparen. An den Liedern des jungen, wilden Stählins hatten diejenigen das meiste Vergnügen, deren Humor die eigene Fehlbarkeit mit einschloss. Linke Dogmatiker, die den – durchaus notwendigen – gesellschaftlichen Diskurs stark prägten, empfanden diese Haltung mitunter als „reaktionär“; daran konnte natürlich auch ein Wahlwerbesong für Willy Brandts SPD nichts ändern.
Das zugehörige Buch liefert weit mehr als nur die Liedtexte, die sich oft erst vollständig beim Mitlesen erschließen. Ergänzend werden hier zahlreiche Funde aus dem Stählinschen Nachlass präsentiert: Lieder, die bisher einzig in (mitunter fragmentarischer) Manuskriptform vorlagen, dazu drei Aufsätze über jungenschaftlich motivierte Themen (etwa die Kunst des Märchenerzählens), eine Liedermacher-Selbstreflexion sowie drei Glossen, die – bei starkem Bezug zu Stählins Wahlheimat Tübingen – für das Schwäbische Tagblatt entstanden. Diese Mixtur aus Lyrik und Prosa ganz unterschiedlicher Haltung findet – bis hin zum Titel – ihre Anregung in Christof Stählins erstem Buch „Findelkinder“ (1981), zu dem die „Privatlieder und ihre Verwandten“ nun sozusagen das Prequel liefern.
In zwei akribisch recherchierten, aber kurzweiligen Essays, die zusammen etwa ein Viertel des Buches einnehmen, liefern Holger Saarmann und Philipp S. Rhaesa nicht nur eine künstlerbiographische, gesellschaftspolitische und historische Einordnung all der zusammengetragenen Schätze; auch Bezüge zum Gesamt-Oeuvre werden hergestellt und machen immer wieder neugierig auf spätere Werke des Porträtierten. Rhaesa fokussiert sich dabei auf die Burg-Waldeck-Festivals der 1960er Jahre, die sowohl für Christof Stählin als auch die gesamte Folk-, Lied- und Weltmusik-Szene wegweisend waren. Wie das alles in der bündischen Kultur der Jungenschaften, der Pfadfinder und Wandervögel wurzelt (ein Aspekt, der Stählin selbst immer am Herzen lag), wird ebenfalls anhand zahlreicher Beispiele gezeigt.
Diverse Abbildungen, Fotos, Skizzen und Karikaturen belegen, was mitunter schwer zu glauben wäre.
Die Autoren des redaktionellen Teils, selber aktive Liederpoeten, waren zu unterschiedlichen Zeiten Seminarteilnehmer der Stählinschen Poetikschule SAGO (die seit 2015 erfolgreich von einem Team seiner ehemaligen Schülerinnen und Schüler weitergeführt wird).
Das Album „Privatlieder“, das seit Mitte der 1990er offiziell vergriffen war, erlebt hier seine späte Erstveröffentlichung auf CD. Die zwölf Titel der originalen LP erscheinen zeitgleich auch auf Spotify, YouTube und Co, während die erweiterte Edition des Frühwerks ausschließlich in physischer Form erhältlich ist, und zwar über die Website der Christof-Stählin-Gesellschaft.
Das Projekt wurde großzügig gefördert von der Stiftung Rheinland-Pfalz für Kultur und der Peter-Rohland-Stiftung.
